In dankbarer Erinnerung an Chales Gysel

8. April 2024 von Andrea Müller

Mit tiefer Trauer nehmen wir Abschied von unserem Freund, Mentor und inspirierenden Wegbegleiter Charles Gysel. Im stolzen Alter von fast 88 Jahren ist Charles am 20. März 2024 friedlich eingeschlafen.

WILCHINGEN. Die SVP Schaffhausen verliert mit ihm einen Vollblutpolitiker, der sich mit seinem Engagement und seinem strategischen Denken bis zuletzt für die Partei und die Öffentlichkeit einsetzte. Charles hat zahlreiche Politikerinnen und Politiker auf ihrem Weg unterstützt und war uns allen ein Vorbild für Einsatzbereitschaft und Überzeugungstreue. Doch Charles war weit mehr als nur ein Politiker. Er war ein Mann, der seine Träume lebte und seine Leidenschaften verfolgte. Er war ein Mann mit vielfältigen
Interessen, einer bewundernswerten Energie und Hartnäckigkeit. Und genau so habe ich Charles auch kennen und schätzen gelernt.

Im Porsche ins Haus der Freiheit
Vor meiner Wahl zur Kantonalpräsidentin hat Charles seinen Besuch bei mir angemeldet, da er mir seine Stimme zur Wahl nicht geben könne, ohne mich vorher persönlich kennenzulernen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich leicht angespannt auf ihn wartete. Mit einem Schmunzeln nahm ich Charles und seine Frau Renate in Empfang – es war doch tatsächlich der Porsche, der blinkte und bei uns auf den Hofplatz fuhr. Nach einer kurzen Begrüssung ging es zuerst einmal um unser gemeinsames Traumauto, bevor wir zum Politischen kamen. Auf jeden Fall war das Eis sofort gebrochen. Und so war der «Antrittsbesuch»
kurzweilig und im Nu vorbei. Es wurde unser erstes von vielen interessanten Gesprächen. Kurze Zeit darauf löste Charles sein Versprechen ein, mit mir eine Fahrt über Land zu machen, selbstverständlich im Cabriolet.
Die sportliche Fahrt führte ins Haus der Freiheit nach Ebnat-Kappel. Charles wurde von Toni Brunner persönlich herzlich begrüsst und an den Tisch begleitet. Nicht an irgendeinen Tisch, sondern an den «Bundesratstisch », was einmal mehr zeigte, dass Charles weit über die Kantonsgrenzen hinaus eine bekannte SVP-Persönlichkeit war. Während der Fahrt und dem Essen wurde natürlich politisiert, aber Charles hatte auch viele andere spannende Geschichten aus dem Leben auf Lager. Er war ein guter Gesprächspartner,
der kritisch hinterfragte und konstruktiv kritisierte. Er konnte gut zuhören und war durch und durch ein Gentleman.Seine positive Art, sein scharfer Geist und seine jung gebliebene Art beeindruckten mich.

«Mein Leben» für seine Wegbegleiter
Das Treffen war auch dieses Mal viel zu kurz. Umso mehr freute ich mich, als er mir seine Memoiren im Buch «Mein Leben» überreichte. Ein kleiner Ritterschlag, gibt es das Buch doch nirgends zu kaufen, sondern
wurde nur durch ihn an Wegbegleiter verschenkt. Charles ist die einzige Person in meinem Umfeld mit eigens geschriebenen Memoiren, aber wundern tut es mich nicht. So kommt es mir vor, als hätte er sein Leben der Intensität nach zweimal gelebt. Oder seine Tage hatten einfach mehr als 24 Stunden. Beim Lesen des Buches wurde mir rasch klar, dass Charles nicht nur die Sonnenseite des Lebens kennengelernt hatte. So musste er in seinem Leben auch einige Schicksalsschläge überwinden.
Charles kam am 17. Januar 1936 als Zweitjüngster von fünf Geschwistern in Wilchingen auf die Welt. Die Mitarbeit auf dem elterlichen Hof, sei es in den Reben oder im Stall, war selbstverständlich und hat Charles viel Freude bereitet. Er wäre gerne Landwirt geworden, hat mir Charles bei unserem ersten Treffen etwas wehmütig erzählt. Aber schon früh war klar, dass der älteste Bruder den landwirtschaftlichen Betrieb der Eltern übernehmen würde. Charles verbrachte eine schöne Jugendzeit, besuchte die Primar- und  Sekundarschule und erfreute sich am Umgang mit der Natur und den Tieren. Ehrlichkeit war oberstes Gebot in seinem Elternhaus. Bodenständig, zielstrebig und fleissig, aber auch offen gegenüber Neuem – auf diesen
Grundlagen wurde Charles erzogen. Und diese Attribute fand man bei Charles bis zum Schluss. Sie waren wohl auch ein Schlüssel zu seinem Erfolg. 1952 zog es Charles ins Welschland nach Lausanne, wo er seinen ersten Sprachaufenthalt absolvierte. Obwohl es ihm dort sehr gut gefiel, musste er sich auf Wunsch seiner Eltern ein Jahr später als Postangestellter in Neunkirch bewerben. 1956 verliess er die Post, absolvierte die RS und die UOS und wurde 1960 zum Fourier befördert. Dazwischen bildete sich Charles an der Handelsschule in Zürich und Neuchâtel weiter.

Ein gebrochener Vorsatz
Im November 1959 heiratete Charles seine Jugendliebe Amanda und gründete mit ihr eine Familie. Amanda kümmerte sich um die vier Kinder, während sich Charles auf seine berufliche Karriere konzentrieren konnte. Vor seiner Heirat versicherte er Amanda, nie in die Politik einzusteigen. Dieser Vorsatz würde er jedoch schon bald über den Haufen werfen. Nach Anstellungen als Sekretär, Chefbuchhalter und EDV-Organisator bei der
Kantonalen Verwaltung Schaffhausen wurde Charles 1972 zum Kommerzchef der neu eröffneten Filiale der Schweizerischen Bankgesellschaft in Schaffhausen ernannt. So schreibt Charles in seinem Buch: «Bankintern
und in der Öffentlichkeit staunte man über meinen Karriereschritt. Es war für viele schwer vorstellbar, dass ein Nichtbanker plötzlich in eine leitende Funktion einer Bank berufen wurde.»

Der amerikanische Traum
«Der amerikanische Traum ist auch im Klettgau möglich» betitelten es die Medien gar, als Charles Gysel dann 1987 zum Bankdirektor der SGB Schaffhausen befördert wurde. Charles hatte sicher auch Selbstzweifel,
kniete sich als Quereinsteiger umso mehr rein und wurde am Ende ein allseits geschätzter Niederlassungsleiter. Inzwischen hatte auch seine politische Karriere Fahrt aufgenommen. Seine politische
Heimat war die BGB (Bauern-, Gewerbe-und Bürgerpartei), die heutige SVP. 1978 wurde er zum Kreispräsidenten der SVP Klettgau gewählt. Sein Einsatz und sein Engagement wurden weitherum erkannt,
und so erstaunte es niemanden, dass er 1982 zum Kantonalpräsidenten gewählt wurde. Mit viel Hingabe und
neuen Ideen ist es ihm in seinen Präsidialjahren bis 1987 gelungen, den Wähleranteil zu steigern. Als kantonaler Parteipräsident war er auch Mitglied des Zentralvorstandes der SVP Schweiz. Oft war er im Bundeshaus in Bern, wirkte in Arbeitsgruppen mit und verkehrte freundschaftlich mit einigen Bundesräten.
1985 wurde Charles mit einem Glanzresultat auf der Stadtliste in den Kantonsrat gewählt. In seiner 24-jährigen Amtszeit reichte er nicht weniger als 49 parlamentarische Vorstösse ein. Er war Mitglied von
70 Spezialkommissionen, von denen er eine Vielzahl präsidierte. Er war unter anderem Mitglied der GPK, der Justizkommission und Präsident der Verfassungskommission. 

Der «Schatten-Aussenminister»
1993 bis 1996 wurde Charles zum Vorsitzenden der Fraktion gewählt. Im Rat war er bekannt als grossartiger Debattierer. Seine spontanen Reden waren gewieft und manchmal scharfzüngig. 1999 wurde Charles, 75 Jahre nach seinem Grossvater, zum höchsten Schaffhauser gewählt. Das ehrenvolle Amt als Kantonsratspräsident machte ihn stolz. An der damaligen Präsidentenfeier war, neben Vertretern der Nachbarkantone, auch eine hochkarätige Delegation des baden-württembergischen Landtages dabei.
Seine Präsidialzeit nutzte er, um den Kanton gegenüber dem Ausland zu vertreten. Als Initiator der Grenzüberschreitenden Beziehungen wurde er als Mitglied in die Bodenseekonferenz gewählt und pflegte,
wie er es nannte, seine «freundnachbarlichen» Beziehungen. Es fiel ihm leicht, mit all den politischen Grössen im Ausland zu politisieren und sich auszutauschen. Er knüpfte mit Magistraten und Politikern im Ausland so starke Bande, dass ihm der inoffizielle Titel «Schatten-Aussenminister» verliehen wurde. Der Abschied aus dem Parlament 2008 ist Charles nicht leicht gefallen. Und doch war er der Meinung, man sollte zurücktreten,
solange man noch gefragt ist. Nach 24 Jahren war es für ihn Zeit. Er wollte sich seiner plötzlich erkrankten Ehefrau widmen.

Der Familienmensch und Freund
Charles pflegte und begleitete seine Ehefrau während der langen Zeit der Krankheit aufopfernd. Er fand aber auch Zeit, über sein Leben nachzudenken und brachte seine Lebensgeschichte auf Papier. Nach dem Tod seiner Ehefrau und dem tragischen Tod seines ältesten Sohnes 2013 wurde es etwas stiller um Charles. Neue Lebensfreude kam zurück, als er seine zweite Frau Renate kennenlernte. Zwei Tage vor seinem 80. Geburtstag heiratete er Renate und verkündete dies am Tag seines Geburtstagsfestes den Anwesenden. Es war ihm gegönnt, mit Renate noch acht erfüllte Jahre zu geniessen. Charles war ein Mensch, der seine Familie liebte, der Freundschaften pflegte, der Feste feierte und die Welt bereiste. Sein Buch hat er übrigens seiner Familie und seinen Freunden gewidmet. Darin findet man auch folgendes wunderschöne Gedicht:
«Und alles hat seine Zeit;
sich begegnen und verstehen,
sich halten und lieben,
sich loslassen und erinnern …»
So lassen wir los und es bleiben die Erinnerungen an Charles. Er wird in unseren Herzen weiterleben als ein Freund, der mit seinem Engagement, seiner Lebensfreude und seinem unerschütterlichen Optimismus
viele Menschen inspiriert hat.
Andrea Müller
Parteipräsidentin SVP Schaffhausen